Liverpool zeigt späte Reue

20 Jahre nach der Katastrophe im Heysel-Stadion räumen die Fans der Reds ihr Fehlverhalten ein. Das Viertelfinal-Hinspiel gegen Juventus Turin endet 2:1

LIVERPOOL taz ■ Michel Platini sah eine Spur zu vergnügt aus, als er neben Ian Rush (früher bei den Reds und Juve auf Torejagd) und Phil Neal (Kapitän der Heysel-Elf) eine Gedenktafel für die Opfer der Brüsseler-Fußballkatastrophe entgegennahm. Der Franzose hatte am Dienstag bestimmt nicht die Times gelesen. In einer bemerkenswerten, achtseitigen Beilage hatte ihm das seriöse Blatt nachgewiesen, dass seine politisch korrekten Aussagen von heute („Ich wusste nicht, dass es auch nur einen einzelnen Toten gegeben hatte“) im krassen Widerspruch zu einem am Tag nach dem unglückseligen Finale gegebenen TV-Interview stehen. „Wir wussten es. Wir wussten, 35 oder 37 Leute sind tot“, hatte der Juventus-Spielmacher damals gesagt, „aber wir mussten spielen. Wir taten es für unsere Fans.“

Mit der Vergangenheit ist es wie mit den Haaren auf dem Kopf, wenn sie etwas spärlicher werden: man legt sie sich so hin, dass man sich keine Blöße gibt. Meister der Verdrängung war in den vergangenen 20 Jahren auch das Gros der Liverpooler Fans gewesen. Mal wurde das baufällige Stadion, mal das fehlerhafte Sicherheitskonzept der belgischen Polizei kritisiert, nur selten das eigene Verhalten. Am Dienstag übernahm die rote Hälfte der Stadt erstmals kollektive Verantwortung für das Desaster. Die Lokalzeitung Liverpool Echo druckte die Namen der 39 Toten von Heysel auf das Titelblatt und schrieb „We’re sorry“ darüber. Auch im Stadion bemühten sich die Fans aufrichtig, mit Armbändern und Plakaten an das eigene Fehlverhalten zu gedenken. Trauer und der Stolz, über den eigenen Schatten gesprungen zu sein, vermischten sich in Anfield zu einer ganz eigenartigen Atmosphäre. Wie schwer es den Anhängern der Heimmannschaft fiel, mit diesen ungewohnten Emotionen umzugehen, zeigte sich, als der Schiedsrichter anpfiff: 40.000 rote Kehlen brüllten befreit los.

Etwa 100 der mitgereisten Juve-Fans hatte zu dem Zeitpunkt leider schon die Schlagzeilen gestohlen. Sie hatten der Gedenkfeier kollektiv den Rücken zugedreht, den Liverpooler „Amicizia“-Plakaten den Finger entgegengereckt und sogar während der Gedenkminute für den verstorbenen Papst gepöbelt. Als „hirnlose Vollidioten“, bezeichnete Gazzetta dello Sport-Korrespondent Giancarlo Galavotti die Minderheit im Mitternachtsradio der BBC. „Man sieht, dass wir in Italien die Lektionen von Heysel leider noch nicht gelernt haben, wir haben immer noch Probleme mit Hooligans“, sagte Galavotti. „Liverpool-Fans sollen sich genau zu überlegen, ob sie wirklich nach Turin zum Rückspiel fahren wollen.“

Ja, gespielt worden war auch noch. Und das gar nicht so schlecht. Liverpool fiel in den ersten 30 Minuten mit einfachen Mitteln über die erschreckend unkonzentrierten Turiner regelrecht her und erzielte durch Hyypiä und Luis Garcia zwei wunderbare Treffer. Juve erwachte erst nach dem 0:2 aus seiner Apathie. Erst rettete der Pfosten gegen Ibrahimovic, dann Scott Carson mit einer glänzenden Parade gegen Del Piero. Der englische U-21-Torwart wurde in der zweiten Hälfte, als die Gäste drückten, zum tragischen Mann auf dem Platz – aus unbegreiflichen Gründen purzelte er an einem harmlosen Cannavaro-Kopfball vorbei. 1:2, das war fast schon wieder ein Sieg für die schwarz-weißen Minimalisten, die ja diese Saison schon fünfmal 1:0 in der Champions League gewonnen haben. „Ein Resultat, das viele Möglichkeiten lässt“, knurrte Fabio Capello durch gepresste Lippen. Dem Mann hatten die vielen Feierlichkeiten augenscheinlich nicht so recht in den Kram gepasst: „Man merkte uns an, dass wir zwei Wochen kein Spiel hatten“ – die Serie A hatte am Wochenende wegen des Papsttodes geruht – „wir waren abgelenkt und haben Liverpool eine halbe Stunde Vorsprung geschenkt“, sagte Capello trocken. Die Aktionen der Juve-Fans wollte er nicht kommentieren. Seinem Kollegen Rafa Benítez blieb nur das Bedauern, eine große Chance verpasst zu haben: „Leider waren beide Halbzeiten sehr unterschiedlich.“ „The Improbables“, die Unwahrscheinlichen, nennt man seine Mannschaft, weil sie in der Liga mehr schlecht als recht kickt, aber in Europa bisher gute Ergebnisse erzielt hat. Wahrscheinlich ist, dass die Reise nächste Woche in Turin endet. Hoffentlich kommen alle wieder gesund nach Hause.

RAPHAEL HONIGSTEIN